Sachverhalt:
Das Reformgesetz zum Vormundschafts- und Betreuungsrecht v. 04.05.2021 tritt am 01.01.2023 in Kraft (BGBl I, S. 882). Mit der sog. „erweiterten Unterstützung“ wird ein neues Instrument in den Aufgabenkatalog der Betreuungsbehörden eingeführt, das sowohl im Vorfeld eines Betreuungsverfahrens (§ 8 Abs. 2) als auch während eines laufenden Betreuungsverfahrens (§ 11 Abs. 3, 4 BtOG) zu Anwendung kommen soll. Inhaltlich heißt es hierzu in § 8 Abs. 2 BtOG: „Die Beratung und Unterstützung der Behörde nach Absatz 1 kann darüber hinaus in geeigneten Fällen mit Zustimmung des Betroffenen im Wege einer erweiterten Unterstützung durchgeführt werden. Diese umfasst weitere, über Absatz 1 hinausgehende Maßnahmen, die geeignet sind, die Bestellung eines Betreuers zu vermeiden, und die keine rechtliche Vertretung des Betroffenen durch die Behörde erfordern.“
Damit wird den Ergebnissen des Forschungsvorhabens[1] „zur Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes in der betreuungsrechtlichen Praxis“ Rechnung getragen, wonach die Evaluierung des Gesetzes zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde gezeigt hat, dass der mit diesem Gesetz gefundene Lösungsansatz eines Vermittlungsauftrags der Betreuungsbehörde nicht ausreichend erfolgreich ist. Vielmehr empfehlen die Forscher, über das bisherige Konzept der „Vermittlung“ hinauszugehen. Dies erfolgt im Reformgesetz einerseits durch eine Konkretisierung des Vermittlungsauftrages in § 8 Abs. 1 BtOG, andererseits durch die erweiterte Unterstützung – der Schaffung eines ganz auf das Betreuungswesen fokussierten, zeitlich begrenzten, fachlich besonders qualifizierten Fall-Managements mit dem Ziel der Abklärung der Möglichkeit der Betreuungsvermeidung bzw. der Einschränkung der erforderlichen Aufgabenkreise. Durch Verweisung in § 11 Abs. 3, 4 BtOG bezieht sich dies auch auf die Prüfung und Durchführung in laufenden Betreuungsverfahren und stellt eine Pflichtaufgabe der Behörde dar. Die Studie geht im Ergebnis von einem Anteil zwischen 5 und 15 % aller neuen Betreuungen aus, die vermeidbar sind.
Die Länder können diese Aufgabe im Rahmen von Modellprojekten auf einzelne Betreuungsbehörden innerhalb eines Landes beschränken (§ 11 Abs. 5 BtOG). Das StMJ signalisierte bereits im Herbst 2021 ein großes Interesse an einer vorangestellten Modellphase, alternativ zum gesetzlichen Auftrag, die sog. Erweiterte Unterstützung zum 01.01.2023 gleich in allen Gebietskörperschaften anlaufen zu lassen. So rief das StMJ zusammen mit dem Bayerischen Städte- und Landkreis hierzu im Dezember des Vorjahres die Kommunen auf, ihr Interesse zu bekunden, was die Stadt Regensburg auch vorbehaltlich einer Entscheidung des Stadtrats bestätigte.
Vertreter der 13 potentiellen Modellkommunen arbeiten aktuell mit dem StMJ an einem gemeinsamen Konzept, wofür seitens der Betreuungsstelle auch bereits ein erster Vorschlag vorgelegt wurde, welcher nun als Arbeitsgrundlage für die Konzept-AG dient.
Das Projekt ist zeitlich derzeit nicht befristet, die Laufzeit wird sich an den Evaluationsergebnissen ausrichten. Das StMJ geht maximal von einer Laufzeit aus, welche sich an der Gesetzesevaluation durch das BMJV, bundesgesetzlich nach 7 Jahren vorgesehen, anlehnt. Abhängig von den gesammelten Erfahrungswerten sei jedoch auch eine kürzere Projektlaufzeit möglich. Nachdem die Erweiterte Unterstützung nach dem Projektzeitraum als Pflichtaufgabe in allen Kommunen eingesetzt werden muss und generell bei diesem Instrument von einer Konnexitätsrelevanz auszugehen ist, wird die Erweiterte Unterstützung auch in unserer Modellregion als dauerhafte, gesetzliche Pflichtaufgabe vorzuhalten sein.
Maßnahmenträger Stadt Regensburg Seniorenamt Abteilung Betreuungsstelle für Erwachsene
Kooperationen: vorrangig
Kosten Gemäß dem hierfür entwickelten Bemessungsinstrument der Arbeitsgruppe der örtlichen Betreuungsbehörden des Dt. Vereines ist mit einem Aufwand von 20 bis 40 Stunden pro Fall zu rechnen (abhängig von der Verfügbarkeit der Angebote, Struktur vor Ort, weite Fahrzeiten etc.). Eine durchschnittliche Bearbeitung wird mit 30 Stunden angesetzt. Die Fallzahl bezieht sich auf 7 % aller Neuverfahren (Mittel aus 5 -15 %).
Anhand dieser Bemessungsgrundlage gehen wir für die Stadt Regensburg für die Erweiterte Unterstützung gemäß § 11 Abs. 3 und 4 BtOG von einem zusätzlichen Personalbedarf von 0,95 VZÄ, besetzt mit einer Fachkraft mit einer Vergütungsbemessung gemäß der Entgeltgruppe S 12 TVöD aus. Die Personaldurchschnittskosten incl. IUK-Arbeitsplatz belaufen sich auf ca. 87.000 Euro. Fachlich geeignet erscheinen Fachkräfte mit der Qualifikation für psychosoziale Einzelfallbearbeitung und Netzwerksteuerung (insbesondere Sozialarbeiter und vergleichbar qualifizierte Berufsgruppen).
Hinsichtlich der für die Einführung der Erweiterten Unterstützung anfallenden Kosten gehen das zuständige Ministerium einvernehmlich mit den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände in Bayern davon aus, dass hier eine Konnexitätsrelevanz angenommen werden kann. Der Bund führt hier ein neues Instrument zur Betreuungsvermeidung ein und definiert hierdurch eine weitere und neue Aufgabe für die Kommunen, was einen Kostenersatz für die Kommunen auslösen dürfte.
Ziel des Modellprojektes: Die gesetzgeberische Zielsetzung der sog. Erweiterten Unterstützung ist wie folgt beschrieben: ● Betreuungsvermeidung ● Umsetzung des Vorrangs sozialrechtlicher vor betreuungsrechtlicher Hilfe ● Stärkung der Selbstbestimmung (Assistenz vor Vertretung) ● Selbstbemächtigung durch temporäre Assistenz
Bezogen auf den jeweiligen Einzelfall verfolgt eine Erweiterte Unterstützung folgende Zielsetzung: ● Kompetente, niedrigschwellige Unterstützung zur Stärkung der eigenen, selbstbestimmten Lebensführung ● Anbahnung eines Helfer-Netzwerks ● Begleitete Überleitung in die Fallverantwortung sozialer Unterstützungsdienste / der Sozialleistungsträger ● Temporäres Fallmanagement, um Betreuung abzuwenden oder Betreuungsbedarf einzuschränken (oder: Überleitung in die ehrenamtliche und durch BV begleitete Betreuung)
Zielgruppe:
Die Erweiterte Unterstützung richtet sich an Personen, welche die Voraussetzungen der Anordnung einer rechtlichen Betreuung gemäß § 1814 Abs. 1 (neu) BGB erfüllen, deren Unterstützungsbedarf aber nicht durch eine reine Vermittlung in Andere Hilfen gemäß § 8 Abs. 2 BtOG ausreichend gedeckt werden kann. Folgende Voraussetzungen, den geeigneten Einzelfall betreffend, müssen erfüllt sein:
● Betreuungsverfahren ist beim AG anhängig bzw. eine Betreuung ist bereits angeordnet ● abgegrenzte Problemlage, die mittelfristige Lösung / Verbesserung erwarten lässt (Dauer der Maßnahme: 3 Monate mit Verlängerungsoption nach Evaluation) ● Schwerpunkt des Unterstützungsbedarfs im administrativen Bereich ● Der / die Betroffene stimmt der Erweiterten Unterstützung zu ● Vorhandene Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft ● Besprechung der geplanten Maßnahmen erscheint gut möglich ● Eigenständige Entscheidungen möglich, Vertretung nicht erforderlich
Inhalt / fachliches Konzept für die Erweiterte Unterstützung: Die Erweiterte Unterstützung soll sich bayernweit am fachlichen Konzept des Case Managements, wie es in der Sozialen Arbeit überwiegend in der Einzelfallhilfe angewandt wird, orientieren. Mit durchgängiger fallverantwortlicher Beziehungs- und Koordinierungsarbeit soll Klärungshilfe, Beratung und der Zugang zu notwendigen Dienstleistungen gewährleistet werden. Mit dem geringstmöglichen Eingriff in die Lebenswelt der Klientinnen und Klienten sollen diese wieder zur selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensgestaltung befähigt werden. Das für die Erweiterte Unterstützung modifizierte Modell des Case Management greift somit den Erforderlichkeitsgrundsatz in der vom Gesetzgeber geforderten Weise auf. Die Mitwirkenden der Arbeitsgruppe zur Konzeptentwicklung unter Beteiligung des StMJ gehen nach dem aktuellen Konzeptstand von einem Phasenmodell für die Erweiterte Unterstützung aus: ● Kontaktaufnahme ● Assessment (Einschätzung) unter größtmöglicher Beteiligung des Betroffenen ● Zieldefinition / Maßnahmenplanung / Erstellung eines ErU-Plans, schriftlicher Kontrakt mit Klient/-in einschl. Schweigepflichtentbindung, ● Umsetzungsphase (3 Monate mit max. 30 Stunden Gesamteinsatz) ● Monitoring: ständige Überprüfung der Durchführung ● Evaluation: Auswertung, Rückleitung an die fallzuständige Sachbearbeitung
Im Rahmen der für die Umsetzungsphase zur Verfügung stehenden drei Monate werden die vereinbarten Maßnahmen in Form von z.B. • regelmäßigen Hausbesuchen oder anderweitigen, persönlichen Kontakten, • Begleitung zu Ärzten, Tagkliniken, Wohnungsanbietern, • Begleitung zu Ämtern und Sozialleistungsträger, zu Leistungserbringern, • moderierten Klärungsgesprächen mit Problembeteiligten, z.B. mit Vermietern • begleitete Vorstellung bei geeigneten, ambulanten Unterstützungsdiensten • u.v.m.
Im Bereich der Methodenkompetenz wird insbesondere ein systemischer Ansatz für die Situationsanalyse und die personenzentrierte Gesprächsführung zum Einsatz kommen. Aber auch eine Ausrichtung der Unterstützung am vorhandenen Ressourcenspektrum der Klienten, familiäre und sonstige Ressourcen aus der Lebenswelt, vor Ort zur Verfügung stehende Unterstützungsangebote der Sozialleistungsträger und der sozial-psychiatrischen Beratungsdienstleiter u.v.m. ist zentral für die Erweiterte Unterstützung gerade im Hinblick auf das Ziel einer Wiederbefähigung durch temporäre Assistenz und Erschließung anderer Hilfesysteme.
Möglichkeit der Delegation an Betreuungsvereine und berufliche Betreuerinnen und Betreuer: Das reformierte Betreuungsrecht sieht drei Modi für die Erweiterte Unterstützung (ErwU) vor:
Der Freistaat Bayern wird nach aktuellem Kenntnisstand im Rahmen des derzeit zu erstellenden Landesausführungsgesetzes zum Betreuungsrecht von der Möglichkeit gemäß § 11 Abs. 5 BtOG Gebrauch machen und ein Modellvorhaben ab 01.01.2023 starten. Das Modellvorhaben bezieht sich nur auf die Erweiterte Unterstützung nach Modus 2 und 3.
Eine Delegation an anerkannten Betreuungsvereinen und geeignete, berufliche Betreuerinnen und Betreuer ermöglicht der Gesetzgeber den Betreuungsbehörden nur im Bereich der Erweiterten Unterstützung im Vorfeld eines Betreuungsverfahrens (§ 8 Abs. 2 BtOG, entspricht Modus 1).
Das StMJ hat an den Rechtsausschuss des Bundesrats einen Antrag dahingehend gestellt, in § 11 Abs. 3 BtOG den Satz aufzunehmen, dass § 8 Abs. 4 BtOG in diesen Fällen entsprechend anwendbar ist. Es bleibt zunächst noch offen, ob eine Delegationsoption künftig auch im Bereich von § 11 Abs. 3 und 4 bestehen wird.
Fazit und Empfehlung:
Unabhängig von der hierzu noch ausstehenden Entscheidung des Bundesgesetzgebers präferieren wir aus strukturellen Gründen in Regensburg die derzeit geltende Lösung, die Erweiterte Unterstützung zumindest im Rahmen des Projektzeitraums bei der Betreuungsbehörde zu belassen und von einer etwaigen Delegationsmöglichkeit zunächst keinen Gebrauch zu machen. Hierfür sprechen folgende Gründe:
Die Betreuungsvermeidung ist schon jetzt ein zentraler Auftrag für die Betreuungsbehörden, welchen wir in jeder Anfrage des Betreuungsgerichts explizit zu prüfen haben. Mit der intensivierten Unterstützung, wie sie der Gesetzgeber mit der Erweiterten Unterstützung einführt, wird zentral das Ziel der Betreuungsvermeidung verfolgt. Die Betreuungsbehörde hält hierfür die erforderliche Expertise und Netzwerk-Ressourcen vor, um ergebnisoffen eine temporäre Assistenz zu erproben.
Das Instrument der Erweiterten Unterstützung komplettiert die konzeptionelle Ausrichtung unserer Arbeit in der Betreuungsstelle hin zu einem rehabilitativen Ansatz. Schon jetzt optimieren wir mit einem Kompetenzteam Andere Hilfen fortwährend unseren Vermittlungsauftrag und auch unsere Bearbeitungsprozesse, die zentral auf eine Betreuungsvermeidung ausgerichtet sind. Das Instrument der Erweiterten Unterstützung kann auf diese Strukturen aufbauen und
Zudem erscheint eine Evaluation im Rahmen der Projektphase durch eine einheitliche Handhabung einer temporären Assistenz innerhalb der Strukturen der Betreuungsstelle gewährleistet.
Mit vier Betreuungsvereinen und einer großen Gruppe an mehr als 80 freiberuflich tätigen Berufsbetreuern können wir regelmäßig den Bedarf an Betreuungsübernahmen nicht decken. Die Neuakquise geeigneter Betreuerinnen und Betreuer gestaltet sich in den zurückliegenden Jahren u.a. aufgrund eines Fachkräftemangels im Bereich der Sozialarbeit zunehmend schwierig, wie die Ergebnisse unserer jährlichen Ausschreibungen auch belegen. Die Betreuungsvereine signalisieren aktuell keine Expansionsüberlegungen. Wir müssen folglich davon ausgehen, dass in der Landschaft der beruflichen Betreuerinnen und Betreuer keine Übernahmekapazitäten vorgehalten werden können, um die Erweiterte Unterstützung delegieren zu können.
[1] Nolting et.al. Alle Bände der Studie sowie zentrale Ergebnisse abrufbar unter: https://www.iges.com/kunden/gesundheit/forschungsergebnisse/2018/rechtliche-betreuungen/index_ger.html
Der Ausschuss empfiehlt / Der Stadtrat beschließt:
1. Die Stadt Regensburg beteiligt sich am Modellprojekt des Freistaat Bayerns:
Erweiterte Unterstützung im laufenden Betreuungsverfahren oder bei bestehender Betreuung gemäß § 11 Abs. 3, 4, 5 Betreuungsorganisationsgesetz (BtOG) i.V.m. § 8 Abs. 2 BtOG
2. Das Modellprojekt soll während der Projektphase an das Seniorenamt, Abteilung Betreuungsstelle, angegliedert und dort in die bereits erprobten Instrumente der Betreuungsvermeidung (z.B. Beratung und Vermittlung in Andere Hilfen) integriert werden.
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